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Interview mit Sigiswald Kuijken
Interview über den Gebrauch von Naturinstrumenten im Orchester
mit Sigiswald Kuijken
Einleitung
Sigiswald Kuijken ist einer der frühen Pioniere der Alten Musik und gilt als Vater der Wiederentdeckung und -erlernung historischer Geigentechnik ohne Kinnhalter und Schulterstütze.
Durch Vermittlung von Jean-François Madeuf hatte ich diesen Advent die erfreuliche Gelegenheit mit einem selbstgewählten Trompetensatz (zusammen mit Rainier Chételat und Graham Nicholson) die 1. und 3. Kantate des Weihnachtsoratoriums mit La Petite Bande (LPB) im Concertgebouw Amsterdam zu spielen.
Diese Erfahrung war in vielerlei Hinsicht eine der wertvollsten meiner bisherigen Karriere.
Eine zentrale Erkenntnis der Probenarbeit war, wie einfach es sein kann, historische Trompete (ohne Löcher) zu spielen, wenn die Voraussetzungen durch das Ensemble gegeben sind.
Da LPB hinsichtlich des Gebrauchs von Naturinstrumenten auf einen bereits etablierten und langjährigen Erfahrungsschatz zurückgreifen kann, entschied ich mich Sigiswald Kuijken persönlich zu diesem Thema zu befragen. Ich bat Ihn um ein kurzes Interview, welches er zu meiner grossen Freude gab:
Julian Zimmermann (JZ):
Wann und warum hat LPB echte Naturinstrumente konsequent in ihre Spielpraxis integriert?
Sigiswald Kuijken (SK):
Wenige Jahre nach der Entstehung von LPB (1972) sah ich ein, dass es mit dem ‘historischen’ Blech ein grundsätzliches Problem gab. Schon damals erwartete ich mit Ungeduld, wann die sogenannten Barock-Trompeter (und Hornisten) sich endlich dazu entschliessen würden, sich ernsthaft mit historischem Spiel zu beschäftigen. Ich hatte immer Mühe damit, dass die Fragen nach originalen Mundstücken und vor allem des Spiels ohne Hilfslöcher abgetan wurden als völlig unmöglich und unrealistisch.
Man ging immer nur weiter mit diesen kompromiss-Instrumenten und Spielweisen… Man spielte sogar den Zink mit Trompeten-Mundstücken wenn ich mich nicht irre.
Es waren auch gute und seriöse Musiker dabei, die sich aber trotzdem nicht eindenken konnten, dass es ja sowieso möglich sein musste. Ich fragte immer ob Bach etc. denn wirklich bewusst unspielbare Partien geschrieben hätte.
Ich verstehe anderseits natürlich auch die Angst: eine Trompete klang ja meistens laut, und ein Fehler wurde (und wird leider noch oft… ) von allen (auch von den Kollegen im Orchester) bemerkt und leicht ohne Verständnis verurteilt oder nachgewiesen. Die Welt ist da ziemlich grausam – die einzige Remedie aber, die Kritiker zum Schweigen zu bewegen, ist ein überzeugendes Spiel oder wenigstens (anfangs) ein überzeugendes Talent und deutlichen Mut dazu, dieses Talent auszubauen. Auch wenn man sich «in Gegenrichtung” zur gängigen Praxis bewegt.
Ich habe selber, als ich 25 war (1969), meine damalige quasi-moderne «Barock-Violin”-Technik aus persönlichem Willen und Einsehen ganz alleine, und OHNE jegliche Hilfe von lebenden Vorbildern (denn es gab ja keine…) zu 100% in Frage gestellt. Dies tat ich gestützt auf die allzu grosse Evidenz (die man nur sieht, wenn man sich einmal dazu beschliesst, die Augen aufzumachen…!), dass es z.B. in Monteverdi’s oder Bachs Zeiten GANZ anders war, als was wir damals (um 1969-70) taten. Ich wurde von vielen (anfangs von fast allen) wie ein verrückter, merkwürdiger Fanatiker betrachtet, ohne Zukunft etc.…
Nur meine Frau Marleen, meine Brüder, die es sich von nahem ansahen und Gustav Leonhardt, den ich erst seit 1965 persönlich kannte, dazu einige liebe Musik-Freunde haben mich damals sofort unterstützt und das war mir Gold wert. Man muss ja ein positives Echo bekommen – man hält es sonst nicht aus bei solch einsamen, aber grundsätzlichen Experimenten. Aber: diese Experimente müssen sein!
Es war damals nicht so sehr weil ich den Klang “schöner» fand ohne Kompromisse – ich konnte den “Originalklang” (wenn es den schon gibt) ja sowieso nirgends hören, wie hätte ich also vergleichen können? Nein, ich tat es aus blosser Neugier und vor allem aus intimer Überzeugung, dass es nur interessanter und echt-lebendiger werden konnte, wenn man sich der Vorstellungswelt der Komponisten annähert und versucht die Kompromisse möglichst beiseite zu lassen.
Die Sache der Haltung [Anm.: Geigenspiel ohne Kinn- und Schulterstütze] hat ja viele andere Folgen, die man am Anfang erst als Beschränkungen sieht, die aber letztlich Schönheiten werden und eine neue Sprache! Der Klang ist mir damals nach ersten Versuchen bereits positiv aufgefallen – ich musste jedoch durch die für mich “neuen» Basis-Probleme der Spieltechnik kommen… und da waren die Quellen meine einzige HiIfe, neben meiner Intuition und starken Motivation… So ging das…
Ich hoffte damals, dass es auch bald ähnlich anfangen musste in der historischen Blechbläser-Welt. Das hat dann aber noch etwa 30 Jahre auf sich warten lassen – kein Problem, vielleicht stand es so in den Sternen geschrieben… Sobald aber die Zeichen da waren, bin ich mit glücklichem Herzen darauf eingegangen – ich habe es nie bedauert, und unterstütze es immer noch leidenschaftlich. So bin ich vor allem Graham Nicholson und Jean-François Madeuf (aber auch allen anderen die ich kenne oder vielleicht noch nicht kenne) äusserst dankbar dafür, dass sie die ganze Bewegung so fruchtbar inspirieren durch überzeugende Realisationen an historischen Instrumenten – sei es im Bau oder im Spiel selbst… mille grazie!!!
JZ: Was macht LPB anders (Intonationspraxis), wenn mit lochlosen Naturtrompeten/Hörnern gespielt wird?
SK: Natürlich höre ich zu und rede mit den Trompetern und Hornisten. Ich bin überzeugt, dass das harmonische Zusammenspiel nur dann eine Chance hat, wenn man einander begreifend anhört, versucht zu verstehen und zu helfen. Es ist eine Sache des Bewusstseins, wo genau die “Natur-Probleme» liegen. – Das ganze Orchester muss bereit sein bei wichtigen Akkorden die Konsonanz mitzuschaffen, maximal.
Der elfte und dreizehnte Oberton der Natur-Instrumente werden ja nie so korrigiert werden können dass sie wirklich tadellos in die übliche Streicher-, Holzbläser- oder Tasten-instrumenten-Skala passen.
Es braucht mehr: die anderen Kollegen müssen wissen, wo sie etwas mitgehen sollen, und warum – es braucht Einsicht bei allen! Und solch eine Einsicht ist ein Vergnügen, für alle!
JZ: Welche Ratschläge würdest Du einem jungen Orchester geben, welches sich mit echten Naturinstrumenten hören lassen möchte?
SK: Eben das, was ich soeben erklärte: Wissen, worum es geht: wo und wie; bei welchen Stellen; einfach intelligent mithören von beiden Seiten, und kluges Ausprobieren! Ich kann schwer von mir aus beurteilen oder ‘festlegen› bis wo exakt ein Trompeten-Ton, der von Natur aus für die Kollegen eher ”zu hoch” oder eher “zu tief” ist, umgebogen werden kann. Überhaupt: Es gibt sicher Grenzen (ich liebe die auch…!) – aber ich stelle fest, dass in den letzten 15 – 20 Jahren, seitdem das Spiel ohne Löcher angefangen hat sich zu manifestieren, eine wichtige Evolution stattgefunden hat. Bravi, bravi!!!
JZ: Was sind Deine Ratschläge an uns Naturtrompeter, um unsere Integration in ein motiviertes Orchester zu vereinfachen?
SK: Vor allem: sagt bitte nie zu früh zu den Kollegen, dass etwas unmöglich sei, auch wenn es sehr schwierig ist; und bemüht Euch, dem Orchester zu zeigen wo die (jetzigen) Limiten sind, ohne zu behaupten sie seien ewig… Das wird überzeugen, und das Bewusstsein schaffen, dass alles in Bewegung ist – nie fertig, immer wechselnd, wie alles andere im Leben. Daraus kann dann eine echte Zusammenarbeit entstehen. Nebenbei sei erwähnt, dass hierbei die Haltung des Dirigenten (wenn es einen gibt) oder/und des Konzertmeisters unheimlich wichtig ist, er muss wissen, Verständnis haben und auch zeigen, ohne Vorwürfe – und lernen.
JZ: Du arbeitest an einem Buchprojekt zu Mozart, möchtest Du etwas dazu verraten – und welches sind Deine nächsten Projekte/CD Veröffentlichungen etc.?
SK: Ja , ich bin dabei, ein Buch über Mozart zu schreiben (vor allem über die Zauberflöte). Genau wie bei meinem Buch “Bleib bei uns, Bach” vor einigen Jahren, ist der praktisch Anlass für dieses Buch, wieder substanzielle unterstützende Spenden vom internationalen Publikum zu bekommen, um La Petite Bande zu helfen zu überleben.
Dieses Mozart-Buch wird also nur über LPB zu bekommen sein, mittels einer Spende die den ‘normalen› Preis eines solchen Buches selbstverständlich weit überschreitet – es geht um Privat-Unterstützung, die belohnt wird mit einem besonderen Buch im Briefkasten. Da alle (damals sehr bedeutenden) früheren Staats-Subventionen von der Flämischen Regierung vor einigen Jahren abrupt eingestellt worden sind, können wir nur durch aussergewöhnliche Methoden überleben und hoffen auf Hilfe – wir sind dem Publikum unendlich dankbar. Auf unserer LPB Website – der in 2019 übrigens neues Leben eingeblasen werden wird – wird demnächst mehr darüber zu lesen sein.
Unsere neueste CD ist im Oktober 2018 bei ACCENT erschienen:
Weihnachts-Kantaten von Buxtehude, Telemann und Bach
(BWV 133, ich freue mich in dir)
– wir sind sehr glücklich damit und bekommen zur Zeit viele gute Echos…
Gegen Ostern kommt:
Schütz› Geschichte der Auferstehung
(9 Sänger mit 4 Gamben und Bc ) + Vier Motetten
Sie erscheint ebenfalls bei ACCENT. Wunderbare Musik ! Weitere Projekte sind in Entwicklung, noch mehr Bach… es ist nie zu viel!
Vielen Dank Sigiswald Kuijken!
When the Germans made Britain Great
Music from the time of George I and George II, written by yet another George…
Georg Friedrich Händel (1685-1759):
Ouvertüre zur Oper Atalanta / HWV 35
Lascia ch’io pianga
Arie der Almirena aus der Oper Rinaldo / HWV 7a
Concerto d-Moll op. 3,5 / HWV 31
[ohne Bezeichnung] – Allegro – Adagio – Allegro ma non troppo – Allegro
Let the bright seraphim
Arie einer israelitischen Frau aus dem Oratorium Samson / HWV 57
Triosonate in a-Dur op. 5,1 / HWV 396
Andante – Allegro – Larghetto – Allegro – Gavotte
Desterò dall’empia dite
Arie der Melissa aus der Oper Amadigi di Gaula / HWV 11
Ensemble «L’alpestre fauno»
Maya Amir – Mezzosopran
Julian Zimmermann – Naturtrompete
Raffaella Bortollini – Oboe
Judith Schneider – Oboe
Giovanni Graziadio – Fagott
Anna Amstutz – Violine
Julia Schwob – Violine
Jacob Lawrence – Viola
Sophie Lamberbourg – Violoncello
Daniela Niedhammer – Cembalo
Über das Programm:
20. Oktober 1714: Georg Ludwig von Hannover wird in Westminster Abbey, London, zu George I gekrönt und damit zum neuen englischen König.
Drei Jahre früher, 1711, unternimmt Georg Friedrich Händel, Kapellmeister im Dienste des Hauses Hannover, seine erste Reise nach London. In dieser Stadt wird er, von Reisen abgesehen, den Rest seines Lebens verbringen.
So treffen Fürst, bzw. nun König, und Kapellmeister unverhofft in London wieder aufeinander. Es ist eine Zeit der Umwälzung: erste Bestrebungen nach einer parlamentarischen Demokratie und Pressefreiheit kommen auf, es ist eine Gesellschaft im Wandel, mittendrin die Musik. Händel stösst neue Entwicklungen im Opernbetrieb an. Extravagante Sänger werden nach London geholt, ein neues Opernhaus entsteht, das Oratorium wird in England eingeführt und weiterentwickelt. Aber auch der Wettbewerb zwischen den Komponisten wird grösser und hat Auswirkungen auf die Politik. Innerhalb des politischen Adels entwickelt sich musikalische Parteinahme.
Das Programm des Konzertes beleuchtet die Musik Händels in dieser bewegten Zeit. Vom Ausgangspunkt „Rinaldo“, seinem ersten grossen Opernerfolg in London, bis zu „Samson“, aus der wichtigen Sparte des Oratoriums erklingen Werke verschiedener Gattungen: Oper, Konzert- und Kammermusik und Oratorium.
Live-Video aus dem Konzert vom Mittwoch, 12. September 2018, 20 Uhr Leonhardskirche: